Martin Schnur
Texte

Schöne Fluchten
Naturlandschaften und Menschenbilder als Experimentierfeld der Malerei
Günther Oberhollenzer

In eine Naturlandschaft wird eine zweite, klar begrenzte Malebene mit Menschen eingeschoben; in einem Interieur öffnet sich, einem Fenster gleich, ein Naturbild in den Außenraum: Verschiedene Realitätsebenen, raffiniert zu einem Ganzen zusammengesetzt, sind ein kennzeichnendes Merkmal vieler Malereien des österreichischen Künstlers Martin Schnur. Die darstellerische Finesse, wie Schnur mehrere Motive zu einem Gemälde zusammenfügt und sie dennoch scheinbar autonom belässt, macht viel von dem Reiz und der Spannung seiner Kompositionen aus. 

Als Skizzen und Ausgangspunkte dienen Schnur eigene Fotografien. Die Aufnahmen der Akte und Modelle werden akribisch vorbereitet, die Posen und Gesten sind nicht zufällig oder improvisiert, sondern sorgsam inszeniert. Als Orte wählt der Künstler Abrisshäuser und aufgelassene, heruntergekommene Wohnungen. Diese kontrastieren formal wie inhaltlich zu Naturbildern – vorwiegend idyllische Wälder, Seen und Teiche – die er in Wien und Umgebung aufnimmt. Aus dem so entstandenen Fundus schöpft Schnur Inspiration für seine Malereien und transformiert das vorhandene Fotomaterial zu mehrschichtigen Kompositionen jenseits rein fotorealistischer Bildwerke. 

Beschauliche Teiche und Seen, wild wuchernde Bäume und Sträucher in warmes, diffuses Sonnenlicht getaucht, dessen feine Strahlen durch die Äste und Blätter fallen und farbenfrohe Reflexionen im Wasser hinterlassen: Die gemalten Naturlandschaften Schnurs geben den Anschein, rein und von der Zivilisation unberührt zu sein. Sie wirken idyllisch, fast unwirklich schön. Die Natur wird durch das bewusste Sehen des Künstlers zur Landschaft, zu seiner ganz persönlichen Landschaftsschau. Die Landschaft berührt den Menschen in seinem Innersten, sie dient als Bedeutungsträger für Natur, für Zivilisationsferne oder auch für eine Paradiesvorstellung. Einerseits scheint sie vertraut, andererseits bleibt sie aber in ihrer Eigengesetzlichkeit, ihrer Unabhängigkeit oder auch ihrer Unheimlichkeit unnahbar fremd. 

Einen Höhepunkt erreichte die Landschaftsmalerei mit der Romantik des 19. Jahrhunderts, als der sich zum Individuum und zur Freiheit bekennende Mensch von der Natur getrennt zu fühlen begann und auf die Suche ging, die verloren geglaubte Einheit wieder zu finden. Indem in Schnurs Malereien Landschaft und Mensch fast nie auf derselben Bildebene existieren und auch inhaltlich kaum in Beziehung stehen, bricht der Künstler klar mit solch einer romantischen Sicht. Aber auch sonst lässt nichts an die erhabene Landschaftsschau der Romantiker denken, an das Staunen vor der Größe und Unendlichkeit der Natur, das Ehrfurcht und Schrecken hervorruft. Diese Bedeutungsebenen von Natur scheinen den Künstler nicht zu interessieren. Seine Landschaften bieten keine weiten Panoramen und Perspektiven, sie sind ausschnitthaft und fragmentarisch, dicht am Holz, am Wasser, an den Gräsern. Schnur zoomt sich ganz nah heran und vermeidet so eine romantisch verklärte Beutungsaufladung. Der Künstler erfreut sich vielmehr an der unerschöpflichen FormenundFarbvielfalt der Natur, geeignete Kulisse für sein virtuoses Spiel mit Licht und Schatten, mit Spiegelungen und Schattierungen. Jegliche konkrete Verortung vermeidend, wohnt den Bildern nur eine vage Erinnerung an einen Wald, See oder Teich inne: Im Wasser werfen Sonnenstrahlen bunte Muster, sich spiegelnde Äste und Blätter verschwimmen ineinander und lassen, formal sich auflösend, an farbenfrohe abstrakte Gemälde denken. In staub 2007 nimmt die Landschaft wie ein warmes, grünblaues Muster den Bildhintergrund ein. Erst nach näherem Hinsehen ist erkennbar, dass es sich vermutlich um den Ausschnitt eines Teiches handelt. Immateriell, wie nur aus Licht gemacht, spiegelt sich im Wasser das grüne Dickicht der Bäume, durchbrochen von Sonnenstrahlen, die, Scheinwerfern gleich, über die nasse Oberfläche streifen und einige verwelkte Blätter und Nadeln tanzen lassen. Der/die BetrachterIn fühlt sich an das Kino erinnert, an die Stofflichkeit der bewegten Bilder, an den feinen Staub des Vorführsaals, den der Lichtstrahl des Filmprojektors sichtbar macht, indem er Kinobilder auf die Leinwand projeziert. Es ist aber die nackte, liegende Frau im Vordergrund, die ihn in das Bild hineinzieht. Die auf einem weißen Boden ausgestreckt Liegende gehört einer anderen Realitätsebene an und doch re- flektieren sich die Farben des Wassers und Waldes im Schatten ihres Körpers. Allerlei zerknüllte, bunte Papierblätter am unteren Bildrand – vielleicht Malutensilien des Künstlers – verstärken Schnurs beliebtes Spiel mit Sein und Schein, mit Spiegelungen und Reflexionen. 

Schnur setzt immer wieder junge Menschen, in legerer Kleidung oder auch nackt, in den Bildvordergrund. Die Dargestellten nehmen diesen aber nicht in Besitz, sie wirken keineswegs selbstbewusst oder gar dominant. Eher kraftlos, vielleicht auch hilflos, liefern sich die Figuren dem/der BetrachterIn aus, ungeschützt stellen sie sich seinen/ihren Blicken – gleichzeitig bleiben sie aber unnahbar und fremd. Schnurs Menschen scheinen in sich ruhend, in Gedanken versunken, manchmal auch melancholisch abwesend oder entrückt, einem anderen Zeit- und Raumgefühl folgend. Ihn verschiedenen Posen verharrend ist ihr Tun wie eingefroren, so als ob sie kurz innehalten oder auf etwas warten. Die Figuren wirken ohne erzählerischem Kontext isoliert. Fragil, in sich gekehrt und still treten sie nicht mit dem/der BetrachterIn in Kontakt; meist von ihm abgewandt wird jegliche Kommunikation verwehrt. Der Mensch hinter der gemalten Abbildung ist nicht fassbar, sein Charakter, sein Wesen bleiben im Verborgenen. Die Malereien haben nur scheinbar etwas Portraithaftes, denn die Funktion eines Portraits – Darstellung körperlicher Ähnlichkeit aber auch Erfassen der Persönlichkeit – wird bewusst nicht erfüllt. Die Dargestellten erinnern kaum an Individuen, eher können sie als ein Symbol für die Vereinzelung des Individuums an sich gesehen werden: isoliert, introvertiert, passiv. Das würde bedeuten, dass Schnur damit ein Lebensgefühl unserer Zeit aufgreift. Aber ist das auch seine Intention? Dem Künstler selbst geht es wahrscheinlich gar nicht so darum, aktuelle Themen aufzugreifen oder gar gesellschaftliche Kommentare in seinen Werken zu vermitteln. Die malerische Wirkung, die bisweilen pathetischen Posen und Gesten können den/die BetrachterIn emotional verführen und auch Empathie auslösen, ihn aber zugleich – ob ihrer Künstlichkeit – verunsichern und irritieren. Mensch und Natur erscheinen, so kunstfertig sie gemalt sind, so grandios die diffusen Lichtstimmungen und Schattierungen, die Stofflichkeit des Wassers oder auch die Feinheit der Haut eingefangen sein mögen, seltsam distanziert. Schnur will nicht das Menschliche seiner Modelle oder die Erhabenheit der Landschaft zeigen. Körper und Naturlandschaft dienen vielmehr als Versuchsfeld für eine Malerei, die mit Licht und Schatten, Fläche und Raum poetisch wie sinnlich eine neue Wirklichkeit erschaffen kann. Mensch und Natur sind auf die Malerei bezogen, sanft eingebettet leben sie in ihr, anstatt sich an den/die RezipientIn zu wenden oder einen klar fassbaren Inhalt zu vermitteln. In den mehrteiligen Arbeiten wird dabei die Beziehung zwischen Innen und Außen ständig neu beleuchtet und in Frage gestellt. Die Überblendung von Räumen und Atmosphären, die Ambivalenz von geometrisch eingegrenzten Feldern und Tiefenwirkungen verleihen den Kompositionen, Vexierbildern gleich, eine zusätzliche Intensität. Der Innenraum mit Modell trifft auf den Außenraum der Naturlandschaft. Verbindendes Element der beiden Realitätsebenen sind Lichtstimmungen und Spiegelungen, Schatten und Farbmuster. In ohne titel 2008 und spiegelsplitter nr2 2009 reflektieren sich Mensch und Landschaft auf am Boden liegenden Spiegelscherben, in transfigured 2009 setzt sich der von außen in den Innenraum eintretende Schein eines Lichtstrahls – vermutlich durch ein Fenster kommend – im danebenliegenden Naturaußenraum fort. Das Licht wird zum eigentlichen Protagonisten der Malerei. 

Es mag ob der malerischen Qualität und Perfektion erstaunen, doch Schnur hat nicht Malerei studiert. Von der Ausbildung her Bildhauer, hat sich der Künstler das Handwerk des Malens selbst beigebracht. Ein einprägsames Erlebnis war für ihn die Begegnung mit Sol LeWitt, dem amerikanischen Meister der Konzeptkunst. Schnur gehörte zu jenem Assistentenstab, der 1988 LeWitts berühmte „Wall Drawings“, in der Wiener Secession, ausführte. Begeistert von dessen Umgang mit Form und Farbe, dem kalkulierten Farbrausch seiner abstrakt-geometrischen Wandmalereien, fühlt sich der Künstler Le Witt näher als manch gegenständlicher Malereiposition. In handwerklicher Meisterschaft gelingt es Schnur dabei, Bilder zu schaffen, die in Ihren Motiven, ihrer Farbgebung und Komposition schlichtweg einfach schön sind. Doch darf zeitgenössische Kunst „schön“ sein? Sie darf. Nach Jahren der theorielastigen Kunstdiskussion wächst wieder die Lust und Sehnsucht an schönen, auch sentimentalen Bildern. Treffend hat das Tim Sommer im „art“ Kunstmagazin bereits 2004 formuliert: „Es muss an den düsteren Zeiten liegen, dass sich die Kunst plötzlich so heiter gibt. Terrorismusgefahr, Wirtschaftsstagnation, Überalterung – wer träumt sich da nicht gern fort in sanftere Gefilde, wo ewige Jugend herrscht, etwas Glamour lockt oder wenigstens die vermeintliche Unschuld der reinen, unberührten Natur? Schön gleich seicht – das gilt nicht mehr. Endlich öffnet die Kunst wieder Notausgänge aus dem trüben Hier und Jetzt. Wir dürfen wieder schwelgen und schwärmen.“[1] Noch vor einigen Jahren, so Sommer weiter, reagierten Künstler mit Panik, sobald beim Atelierbesuch das Unwort „Schönheit“ in den Mund genommen wurde. Sie galt, absurd genug, als schlimmes Makel im Lebenswerk. Wurde dennoch Schönheit diagnostiziert, wurde schleunigst versucht, den Schleier der Diskurse darüber zu werfen. So war jedes abgemalte Foto ein Akt der Medienkritik, jedes gegenständliche Bild eine gesellschaftspolitische Reflexion. Doch so wurde man vielen Werken nicht gerecht. Schnurs Bilder sind meisterlich gemalt, den Betrachter einnehmend und gewinnend, ohne aberoberflächlich oder naiv zu wirken. Sie sind voller Licht, sinnlich und farbintensiv, nicht jedoch lieblich oder gar kitschig. Martin Schnurs Malereien sind schön. Und das ist meines Erachtens - ohne Einschränkung - als eine positive Wertung zu verstehen. 

[1] Tim Sommer, Ausbruch ins Paradies – Schöne Fluchten. Der neue Trend zum Idyll in Malerei und Fotografie, in: art. Das Kunstmagazin, Juni 2004, Seite 16-26, hier Seite 25.